boden & gestrüpp / ‚das passagen-werk‘ von walter benjamin

Gebiete urbar zu machen, auf denen bisher nur der Wahnsinn wuchert. Vordringen mit der geschliffenen Axt der Vernunft und ohne rechts noch links zu sehen, um nicht dem Grauen anheimzufallen, das aus der Tiefe des Urwalds lockt. Aller Boden musste einmal von der Vernunft urbar gemacht, vom Gestrüpp des Wahns und des Mythos gereinigt werden.

walter benjamin, ‚das passagen-werk‘ (1927 – 1940), postum in gesammelte schriften, band V, frankfurt/main 1982

schnaps & wallhecken

[…] Der Bedeutung des Wortes Nobiskrug als Teufelsschänke ist unbedingt beizustimmen. Der Nobiskrug zwischen Münster und Telgte war eine solche. In ihm wurde allerlei Teufelsspuk und Unfug getrieben von dem dummen Volk, welches zu dem wunderthätigen, aus einem Holzblock, Telge, geschnitzten Muttergottesbilde wallfahrtete. Lange Prozessions=Reihen von Männern und Weibern, alten und jungen, vornehmen und niedrigen, selbstverständlich die vorgeschriebenen Gebete und obligaten Lieder plärrend und schnarrend, ohrenzerreißende Vocalmusik, von Tagedieben, denen bei diesen öffentlichen Aufzügen – und bei der Einkehr im Nobiskruge durch Übergenuß des Klaren (Schnappses) – auf der Weiterfahrt die beste Gelegenheit zu zärtlichen Verirrungen, im Schutze buschreicher Wallhecken, geboten wurde, von denen der Herausgeber Aug= und Ohrenzeüge mehr als ein Mal gewesen ist. (Landbuch von Pommern, Abth. II, Bd. VIII, 600 Anmerk.) So vor siebenzig Jahren und darüber, 1809-1813.

heinrich berghaus, der sprachschatz der sassen: ein wörterbuch der plattdeütschen sprache in den hauptsächlichsten ihrer mundarten. Bd. 2, I – N, brandenburg 1883

topographische karte der kreise des regierungs-bezirks münster, blatt 6, kreis münster, 1842

mit beuys im wald / ‚ästhetik und ökologie‘ von lucius burckhardt

Eine volkstümliche Redensart, in der sehr viel Wahrheit liegt, lautet: „Man kann den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“. In der Tat, es ist nicht leicht, einen Wald wirklich zu sehen: Stehen wir im Walde, so sehen wir die umgebenen Bäume, einige Stämme, die Wipfel, die über uns zusammenschlagen, aber den Wald sehen wir nicht. Begeben wir uns also aus dem Wald heraus auf das Feld: Wohl sehen wir jetzt etwas vom Wald, den Waldrand, wir wissen aber nicht, ob dies lediglich ein paar Bäume sind oder ob der Wald im Inneren weitergeht, ob wir am Beginn eines richtigen großen Waldes stehen. Einige tausend Bäume müssten es schon sein, damit es ein Wald ist, aber kann man Sie sehen? Kann man 7000 Bäume sehen? Der Wald also ist ein Begriff, wie müssen ihn in unserem Kopf zurechtlegen. Nur auf der Landkarte können wir erfahren, ob wir am Beginn eines Waldes stehen oder nur vor einem Gehölzstreifen von wenigen Metern Tiefe. Wie also, so mag sich Beuys gefragt haben, sieht man 7000 Bäume? Und zudem noch in einer Stadt: Zwischen den Straßen und Häusern und Gärten ist ja ein Wald ganz undenkbar. Und doch nannte Beuys sein Werk „Die Verwaldung von Kassel“. Bekanntlich hat Beuys neben jeden der seiner 7000 Bäume eine Stange Basalt zur Hälfte in die Erde eingraben lassen. Alle diese 7000 Basaltblöcke lagen zu Beginn der Aktion aufgeschichtet auf dem Kasseler Friedrichsplatz. Jeder Einwohner von Kassel hat sie gesehen. Im Laufe der Pflanzaktion der 7000 Bäume wurden die Steine abgefahren. Wo also in der Nähe unserer Wohnung oder unseres Arbeitsplatzes in Kassel ein Baum steht, der von einem solchen Basaltblock begleitet ist, da wisse wir: Solche Bäume gibt es 7000. 7000 Bäume sind ein ganzer Wald. In Kassel also steht ein ganzer Wald – der Wald wurde sichtbar gemacht nicht dadurch, daß 7000 Bäume nebeneinander gepflanzt worden wären, was eben als Wald nicht wahrgenommen werden kann, sondern dadurch, daß unser Kopf eine Überlegung anstellt, die auf die Zahl der Bäume schließt. Es ist ein intellektueller, ein künstlicher, ein künstlerischer Wald, aber es ist die Sichtbarmachung eines Waldes in der Umwelt, in der der moderne Mensch zu leben hat: in der Metropole.

lucius burckhardt, ‚ästhetik und ökologie‘ zuerst in bauwelt # 81/39, 1990, wiederabgedruckt in ‚warum ist landschaft schön? die spaziergangswissenschaft‘, hrsg. von markus ritter und martin schmitz, berlin 2006.

  • botanisieren im wald: baumkataster der stiftung 7000 eichen, kassel

„Wir sind nicht imstande, jedem einzelnen menschen einen garten oder auch nur einen baum zuzuweisen.“ / ‚die moderne siedlung‘ von adolf loos

Nun ist es wohl natürlich, daß man dem schrebergärtner die möglichkeit gibt, in nächster nähe seines gartens zu wohnen, das heißt, dort sein wohnhaus zu bauen. Ich komme dadurch zu einer merkwürdigen forderung. Nicht jeder arbeiter hat das recht, haus und garten zu besitzen, sondern nur der, der den drang dazu hat, einen garten zu bebauen. Sie werden vielleicht einwenden, daß kein grund dazu da sei, so streng zu sein und zu verbieten, daß ein arbeiter auch einen kleinen luxusgarten besitze, in dem rasenflächen sind und rosen stehen. Ich würde mich gegen den modernen geist versündigen, wenn ich nicht so streng wäre. Rousseau, der modernste mensch des achtzehnten jahrhunderts, beschreibt in seinem erziehungsroman „Emile“, wie die jugend von damals – also vor hundertfünfzig jahren – erzogen werden sollte. Der knabe Emile bekommt einen lehrer, der ihn auf die modernste art und weise erzieht. Uns mutet eine solche erziehungsweise lächerlich an, weil es nach modernen begriffen unmöglich ist, jedem knaben einen hofmeister zu geben. Kinder müssen in einer schule unterrichtet werden, und wer seine kinder außerhalb der schule unterrichten läßt durch eine einzelperson oder vielleicht gar zwei, drei oder vier personen zu gleicher zeit, versündigt sich gegen den modernen geist. Der moderne geist ist ein sozialer geist, und ein antisozialer geist ist ein unmoderner geist. Ganz genau so kann die freude an der natur nicht vom einzelnen durch den besitz eines gartens befriedigt werden. Wir sind nicht imstande, jedem einzelnen menschen einen garten oder auch nur einen baum zuzuweisen. Genau so, wie die kinder in die schule zu gehen haben, hat sich der mensch an der freien natur zu erfreuen. Er hat in einen gemeinschaftlichen park, in eine gemeinschaftliche baumschule zu gehen. Daher ist der besitz eines einzelgartens antisozial. Das sind ansichten, die eine zuhörerschaft von heute nicht ganz begreifen wird, die aber in fünfzig oder sechzig jahren so allgemein sein werden, daß man gar nicht mehr darüber sprechen wird. Wer revolutionen vermeiden will, wie ich, wer evolutionist ist, soll ständig daran denken: der besitz eines gartens beim einzelnen muß aufreizend wirken, und wer da nicht schritt hält, ist für jede kommende revolution oder jeden krieg verantwortlich.

Nun sagte ich, daß nur diejenigen menschen einen garten besitzen sollen, die ihn bebauen wollen, also die schrebergärtner. Der schrebergärtner ist glücklich, er hat etwas, was seine entsetzlich aufreibende tagesarbeit kompensiert. Er wird geistig und seelisch wieder zum menschen gemacht. Nicht alle menschen können einen schrebergarten besitzen oder bebauen. Es gibt viele berufe, die den menschen von der gartenstadt ausschließen. Ein feinmechaniker darf einen spaten nicht in die hand nehmen, er schädigt dadurch seine hand; ein violinspieler darf einen spaten nicht in die hand nehmen, er schädigt dadurch seine hand. Viele geistige berufe machen zum schrebergärtner ungeeignet. Ich habe daher als chefarchitekt des siedlungsamtes der stadt Wien die forderung aufgestellt, daß nur derjenige ein haus besitzen darf, der jahre hindurch gezeigt hat, daß er imstande ist, einen garten zu bebauen. Denn dazu bereit sind alle, aber nur wenige bleiben bei der stange. Wer sich aber freiwillig über den achtstundentag hinaus verpflichtet, nahrung zu schaffen, dem soll die möglichkeit geboten werden, sich ein haus zu errichten. Er soll es nicht aus öffentlichen mitteln erhalten, weil es keine schmarotzer geben darf in der menschlichen gesellschaft. Ich bin der meinung, daß der gärtner wohl, wenn man die finanzfrage bereinigen helfen will, baugrund und boden mit hilfe öffentlichen geldes zu bekommen hat, aber das haus selbst erwerben muß. Dadurch werde ich freilich in kollision mit der sozialdemokratischen partei kommen, die keine hausherren züchten will, was mir aber vollkommen gleichgültig ist, denn ich bin kein parteimensch.

Überdies bin ich der meinung: Wenn es also zweierlei menschen der arbeitenden klasse gibt, solche, die einen teil ihres wochengeldes auf den markt zu tragen haben, um gemüse einzukaufen, und solche, die mit hilfe einer arbeit, die lust und freude ist, sich dieses geld ersparen, dann liegt ein ausgleich darin, daß die menschen der zweiten gruppe sich ihr haus selbst bauen und bezahlen und sich verpflichten, ihre ersparnisse auf die ausgestaltung des gartens zu verwenden.

adolf loos, ‚die moderne siedlung‘ in „für bauplatz und werkstatt“, mitteilungen der württembergischen beratungsstelle für das baugewerbe, herausgegeben vom württembergischen landesgewerbeamt, staatliche beratungsstelle für das baugewerbe, stuttgart, januar 1927 & in der sturm“, 17. jahrgang, berlin, februar 1927, II. heft.

„Garten des Wissens“ / ‚vom nutzen und nachtheil der historie für das leben‘ von friedrich nietzsche

Gewiss, wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müssiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm auf unsere derben und anmuthlosen Bedürfnisse und Nöthe herabsehen.

friedrich nietzsche, ‚unzeitgemässe betrachtungen. zweites stück: vom nutzen und nachtheil der historie für das leben.‘, leipzig 1874

garteneskapismus

was ist los hinter den gartenmauern, den -hecken und -zäunen (oder gabionen)? giessen und rasenmähen werden gerade esoterisch zu wellness verklärt. gärtnereien müssen die bestellfunktion auf ihren websites blockieren, weil sie nicht mehr nachkommen. bei royal flora holland in aalsmeer und anderen blumengrossmärkten bzw. direkt in den gärtnereien, wurden für den frühling vorproduzierte pflanzen vernichtet. sehr bunt und viel verpackung. plastikmüll. zum glück hatten die baumärkte weiter geöffnet … der traffic auf den diy-accounts bei facebook war noch nie so hoch. die wartelisten für einen kleingarten, weiterhin von der städtebaulichen verdichtung in der zeit der distanzierung bedroht, werden noch länger. in den öffentlichen parkanlagen sieht es aus wie in der fussgängerzone am samstag. neben dem obligatorischen grillmüll auf der teilweise verbrandten grasnarbe, findet man jetzt auch coronamüll in den beeten und rabatten. naturschutzgebiete werden überrannt. „natur“ und so …

der garten wird gerade wieder zum pairi daēza, zum paradies emotionalisiert. ein hortus conclusus. was jenseits des eingezäunten, umgrenzten, eigenen grundstücks passiert wird ausgeblendet. blümchen, etwas sogenannte selbstversorgung & eskapismus.

der besitz eines gartens ist luxus. besonders in den städten und ballungsräumen. stadtplanungen wie beim garden city movement wären heute nicht mehr durchzusetzen: verschwendung von bauplätzen. da muss eine grünstreifen, dessen pflegebudget meist nicht mitkalkuliert wird, zwischen den gebäuden reichen.

und auf der anderen seite des gartenzauns? neben covid-19 wandelt sich das klima weiter, auf den strassen in den usa und anderswo geht es um black lives matter, polizeigewalt und den kolonialismus. was hat das mit blümchen und dem eigenen kleinen paradies zu tun? viel!

die meisten der pflanzen sind produkte des kolonialismus und des europäischen imperialismus. so verklärte forscher und botaniker wie johann & georg forster, alexander von humboldt & aimé bonpland, joseph banks oder philibert commerson, hätten ohne die imperialistischen strukturen ihre reisen nicht machen und neue pflanzen „entdecken“ und sammeln können. es handelte sich keineswegs um gartenreisen …

gerade werden statuen von ihren sockeln geholt. im garten blühen die rosen. fast jeder zweit- oder drittrosenbesitzer hat wahrscheinlich eine ’souvenir de la malmaison‘ im beet. oh, joséphine! der rosengarten am château de malmaison … geboren wurde marie josèphe rose tascher de la pagerie aka de beauharnais auf martinique, kleine antillen, département d’outre-mer et région d’outre-mer und gehört damit zur europäischen union. die tochter eines zuckrohrplantagenbesitzers war sich sehr bewusst, wie so ein betrieb funktioniert: mit sklaven. 1794, nach der revolution, wurde die sklaverei in den französischen kolonien abgeschafft. napoleon führte sie 1802 wieder ein. im park la savanne in fort-de-france steht eine statue zu ehren der „impératrice des roses“. kopflos. die bevölkerung von martinique, ca. 80% sind afrikanischer herkunft, findet das ganz ok. nicht gerade beliebt die dame …

in gewächshäusern gibt es immer etwas zu entdecken. besonders in den grossen wie den serres royales de laeken / koninklijke serres van laken. die prunkbauten am königlichen schloss, offizielle residenz der belgischen könige, wurden in der regierungszeit von leopold II. erbaut. finanziert aus den erträgen der privatherrschaft des belgischen königs im kongo. eines heisst passender weise „serre du congo“. sehr imposant …

eine endlose liste …

geschichtliches bewusstsein beschränkt sich häufig auf kontextlose besuche in barock-, landschafts- oder sogenannten bauerngärten. der blick über den eigenen gartenzaun ist eher verpönt, es sei denn, es ist die fortführung des kolonialismus mit anderen mitteln: des tourismus. die gartenreise: ein platz an der sonne (wahlweise eine gartenbank im schatten) & blümchen.

spuren des kolonialismus, imperialismus und des orientalism (edward said) finden wir in vielen gärten und parks. das chinesische teehaus im park von sanssouci in potsdam oder der chinesische turm im englischen garten in münchen, die moschee im schwetzinger schlossgarten, … bei architektur und der deko kann man es kaum oder nur bewusst übersehen, etwas exotik mit politischer vergangenheit. chinoserien findet man heute in form eines buddhas im garten. bei der frage über die herkunft dieser „skulptur“ und nach den dortigen arbeitsbedingungen, ist die reaktion weit entfernt von einem om … deko und blümchen sind eine sehr emotionale angelegenheit. und die der provenienz der pflanzen?

bald ist herbst: astern … oder symphyotrichum oder eurybia? s. novi-belgii, die neubelgische, oder s. novae-angliae, die neuengland-aster, sind importe. produkte des europäischen kolonialismus. die botaniker hatten die bereits von vergil erwähnte aster amellus, die berg- oder kalk-aster, vor augen. der eurozentrische blick durch die botanische brille …

kann man sich langfristig im garten hinter hecken, zäunen oder mauern mit ein paar blümchen und „etwas“ deko einbunkern? machen gartenhistoriker ewig so weiter mit formalen spielchen ohne referenz auf den sozialen, politischen und historischen kontext? ist „garten“ nichts anderes als sinnloser und -freier eskapismus???

„Ich würde gern mitunter aus dem Haus tretend ein paar Bäume sehen.“ / ‚geschichten vom herrn keuner‘ von bertolt brecht

Herr K. und die Natur

Befragt über sein Verhältnis zur Natur, sagte Herr K.: „Ich würde gern mitunter aus dem Haus tretend ein paar Bäume sehen. Besonders da sie durch ihr der Tages- und Jahreszeit entsprechendes Andersaussehen einen so besonderen Grad von Realität erreichen. Auch verwirrt es uns in den Städten mit der Zeit, immer nur Gebrauchsgegenstände zu sehen, Häuser und Bahnen, die unbewohnt leer, unbenutzt sinnlos wären. Unsere eigentümliche Gesellschaftsordnung läßt uns ja auch die Menschen zu solchen Gebrauchsgegenständen zählen, und da haben Bäume wenigstens für mich, der ich kein Schreiner bin, etwas beruhigend Selbständiges, von mir Absehendes, und ich hoffe sogar, sie haben selbst für die Schreiner einiges an sich, was nicht verwertet werden kann.“ „Warum fahren Sie, wenn Sie Bäume sehen wollen, nicht einfach manchmal ins Freie?“ fragte man ihn. Herr Keuner antwortete erstaunt: „Ich habe gesagt, ich möchte sie sehen aus dem Hause tretend.“ (Herr K. sagte auch: „Es ist nötig für uns, von der Natur einen sparsamen Gebrauch zu machen. Ohne Arbeit in der Natur weilend, gerät man leicht in einen krankhaften Zustand, etwas wie Fieber befällt einen.“)

bertolt brecht, ‚geschichten vom herrn keuner. der verwundete sokrates‘ ,hannover 1959

„Ein Gespräch über Bäume …“ / ‚an die nachgeborenen‘ von bertolt brecht

[…]

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
[…]

bertolt brecht, ‚an die nachgeborenen‘ (1934 – 1938) in ‚die neue weltbühne‘, paris 1939

 

münsterlandschaft / ‘westphälische schilderungen aus einer westphälischen feder’ von annette von droste-hülshoff

Allmählich bereiten sich indessen freundlichere Bilder vor, – zerstreute Grasflächen in den Niederungen, häufigere und frischere Baumgruppen begrüßen uns als Vorposten nahender Fruchtbarkeit, und bald befinden wir uns in dem Herzen des Münsterlandes, in einer Gegend, die so anmuthig ist, wie der gänzliche Mangel an Gebirgen, Felsen und belebten Strömen dieses nur immer gestattet, und die wie eine große Oase, in dem sie von allen Seiten, nach Holland, Oldenburg, Cleve zu, umstäubenden Sandmeer liegt. – In hohem Grade friedlich, hat sie doch nichts von dem Charakter der Einöde, vielmehr mögen wenige Landschaften so voll Grün, Nachtigallenschlag und Blumenflor angetroffen werden, und der aus minder feuchten Gegenden Einwandernde wird fast betäubt vom Geschmetter der zahllosen Singvögel, die ihre Nahrung in dem weichen Kleiboden finden. – Die wüsten Steppen haben sich in mäßige, mit einer Haidenblumendecke farbig überhauchte Weidestrecken zusammengezogen, aus denen jeder Schritt Schwärme blauer, gelber und milchweißer Schmetterlinge aufstäuben läßt. – Fast jeder dieser Weidegründe enthält einen Wasserspiegel, von Schwertlilien umkränzt, an denen Tausende kleiner Libellen wie bunte Stäbchen hängen, während die der größeren Art bis auf die Mitte des Weihers schnurren, wo sie in die Blätter der gelben Nymphäen, wie goldene Schmucknadeln in emaillierte Schalen niederfallen, und dort auf die Wasserinsekten lauern, von denen sie sich nähren. – Das Ganze umgränzen kleine, aber zahlreiche Waldungen. – Alles Laubholz, und namentlich ein Eichenbestand von tadelloser Schönheit, der die holländische Marine mit Masten versieht – in jedem Baume ein Nest, auf jedem Aste ein lustiger Vogel, und überall eine Frische des Grüns und ein Blätterduft, wie dieses anderwärts nur nach einem Frühlingsregen der Fall ist. – Unter den Zweigen lauschen die Wohnungen hervor, die langgestreckt, mit tief niederragendem Dache, im Schatten Mittagsruhe zu halten und mit halbgeschlossenem Auge nach den Rindern zu schauen scheinen, welche hellfarbig und gescheckt wie eine Damwildherde sich gegen das Grün des Waldbodens oder den blassen Horizont abzeichnen, und in wechselnden Gruppen durcheinander schieben, da diese Haiden immer Allmenden sind, und jede wenigstens sechzig Stück Hornvieh und darüber enthält. – Was nicht Wald und Haide ist, ist Kamp, d.h. Privateigenthum, zu Acker und Wiesengrund benützt, und, um die Beschwerde des Hütens zu vermeiden, je nach dem Umfange des Besitzes oder der Bestimmung, mit einem hohen, von Laubholz überflatterten Erdwalle umhegt. – Dieses begreift die fruchtbarsten Grundstrecken der Gemeinde, und man trifft gewöhnlich lange Reihen solcher Kämpe nach- und nebeneinander, durch Stege und Pförtchen verbunden, die man mit jener angenehmen Neugier betritt, mit der man die Zimmer eines dachlosen Hauses durchwandelt. Wirklich geben auch vorzüglich die Wiesen einen äußerst heitern Anblick durch die Fülle und Mannigfaltigkeit der Blumen und Kräuter, in denen die Elite der Viehzucht, schwerer ostfriesischer Rasse, übersättigt wiederkaut, und den Vorübergehenden so träge und hochmüthig anschnaubt, wie es nur der Wohlhäbigkeit auf vier Beinen erlaubt ist. Gräben und Teiche durchschneiden auch hier, wie überall, das Terrain, und würden, wie alles stehende Gewässer, widrig sein, wenn nicht eine weiße, von Vergißmeinnicht umwucherte Blütendecke und der aromatische Duft des Münzkrautes dem überwiegend entgegenwirkten; auch die Ufer der träg schleichenden Flüsse sind mit dieser Zierde versehen, und mildern so das Unbehagen, das ein schläfriger Fluß immer erzeugt. – Kurz diese Gegend bietet eine lebhafte Einsamkeit, ein fröhliches Alleinsein mit der Natur, wie wir es anderwärts noch nicht angetroffen. – Dörfer trifft man alle Stunde Weges höchstens eines, und die zerstreuten Pachthöfe liegen so versteckt hinter Wallhecken und Bäumen, daß nur ein ferner Hahnenschrei, oder ein aus seiner Laubperücke winkender Heiligenschein sie dir andeutet, und du dich allein glaubst mit Gras und Vögeln, wie am vierten Tage der Schöpfung, bis ein langsames »Hott« oder »Haar« hinter der nächsten Hecke dich aus dem Traume weckt, oder ein grell anschlagender Hofhund dich auf den Dachstreifen aufmerksam macht, der sich gerade neben dir, wie ein liegender Balken durch das Gestripp des Erdwalls zeichnet. – So war die Physiognomie des Landes bis heute, und so wird es nach vierzig Jahren nimmer sein. – Bevölkerung und Luxus wachsen sichtlich, mit ihnen Bedürfnisse und Industrie. Die kleinern malerischen Haiden werden geteilt; die Cultur des langsam wachsenden Laubwaldes wird vernachlässigt, um sich im Nadelholze einen schnellern Ertrag zu sichern, und bald werden auch hier Fichtenwälder und endlose Getraidseen den Charakter der Landschaft teilweise umgestaltet haben, wie auch ihre Bewohner von den uralten Sitten und Gebräuchen mehr und mehr ablassen; fassen wir deshalb das Vorhandene noch zuletzt in seiner Eigentümlichkeit auf, ehe die schlüpferige Decke, die allmählich Europa überfließt, auch diesen stillen Erdwinkel überleimt hat.

annette von droste-hülshoff, anonym als ‘westphälische schilderungen aus einer westphälischen feder’ in ‘historisch-politische blätter für das katholische deutschland’, 16. band, münchen 1845

„ …, es war vielmehr die völlig gleiche alte Heidelandschaft.“ / ‚der prozess‘ von franz kafka

[…] Aber statt die Tür dort zu öffnen, kroch der Maler unter das Bett und fragte von unten: „Nur noch einen Augenblick. Wollen Sie nicht noch ein Bild sehn, das ich Ihnen verkaufen könnte?“ K. wollte nicht unhöflich sein, der Maler hatte sich wirklich seiner angenommen und versprochen, ihm weiterhin zu helfen, auch war infolge der Vergeßlichkeit K.s über die Entlohnung für die Hilfe noch gar nicht gesprochen worden, deshalb konnte ihn K. jetzt nicht abweisen und ließ sich das Bild zeigen, wenn er auch vor Ungeduld zitterte, aus dem Atelier wegzukommen. Der Maler zog unter dem Bett einen Haufen ungerahmter Bilder hervor, die so mit Staub bedeckt waren, daß dieser, als ihn der Maler vom obersten Bild wegzublasen suchte, längere Zeit atemraubend K. vor den Augen wirbelte. „Eine Heidelandschaft,“ sagte der Maler und reichte K. das Bild. Es stellte zwei schwache Bäume dar, die weit voneinander entfernt im dunklen Gras standen. Im Hintergrund war ein vielfarbiger Sonnenuntergang. „Schön,“ sagte K., „ich kaufe es.“ K. hatte unbedacht sich so kurz geäußert, er war daher froh, als der Maler, statt dies übelzunehmen, ein zweites Bild vom Boden aufhob. „Hier ist ein Gegenstück zu diesem Bild,“ sagte der Maler. Es mochte als Gegenstück beabsichtigt sein, es war aber nicht der geringste Unterschied gegenüber dem ersten Bild zu merken, hier waren die Bäume, hier das Gras und dort der Sonnenuntergang. Aber K. lag wenig daran. „Es sind schöne Landschaften,“ sagte er, „ich kaufe beide und werde sie in meinem Bureau aufhängen.“ „Das Motiv scheint Ihnen zu gefallen,“ sagte der Maler und holte ein drittes Bild herauf, „es trifft sich gut, daß ich noch ein ähnliches Bild hier habe.“ Es war aber nicht ähnlich, es war vielmehr die völlig gleiche alte Heidelandschaft. Der Maler nutzte diese Gelegenheit, alte Bilder zu verkaufen, gut aus. „Ich nehme auch dieses noch,“ sagte K. „Wieviel kosten die drei Bilder?“ „Darüber werden wir nächstens sprechen,“ sagte der Maler. „Sie haben jetzt Eile und wir bleiben doch in Verbindung. Im übrigen freut es mich, daß Ihnen die Bilder gefallen, ich werde Ihnen alle Bilder mitgeben, die ich hier unten habe. Es sind lauter Heidelandschaften, ich habe schon viele Heidelandschaften gemalt. Manche Leute weisen solche Bilder ab, weil sie zu düster sind, andere aber, und Sie gehören zu ihnen, lieben gerade das Düstere.“ Aber K. hatte jetzt keinen Sinn für die beruflichen Erfahrungen des Bettelmalers. „Packen Sie alle Bilder ein,“ rief er, dem Maler in die Rede fallend, „morgen kommt mein Diener und wird sie holen.“ „Es ist nicht nötig,“ sagte der Maler. „Ich hoffe, ich werde Ihnen einen Träger verschaffen können, der gleich mit Ihnen gehen wird.“ Und er beugte sich endlich über das Bett und sperrte die Tür auf. „Steigen Sie ohne Scheu auf das Bett,“ sagte der Maler, „das tut jeder, der hier hereinkommt.“ […]

franz kafka, ‚der prozess‘, hrsg. von max brod, berlin 1925