mit beuys im wald / ‚ästhetik und ökologie‘ von lucius burckhardt

Eine volkstümliche Redensart, in der sehr viel Wahrheit liegt, lautet: „Man kann den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“. In der Tat, es ist nicht leicht, einen Wald wirklich zu sehen: Stehen wir im Walde, so sehen wir die umgebenen Bäume, einige Stämme, die Wipfel, die über uns zusammenschlagen, aber den Wald sehen wir nicht. Begeben wir uns also aus dem Wald heraus auf das Feld: Wohl sehen wir jetzt etwas vom Wald, den Waldrand, wir wissen aber nicht, ob dies lediglich ein paar Bäume sind oder ob der Wald im Inneren weitergeht, ob wir am Beginn eines richtigen großen Waldes stehen. Einige tausend Bäume müssten es schon sein, damit es ein Wald ist, aber kann man Sie sehen? Kann man 7000 Bäume sehen? Der Wald also ist ein Begriff, wie müssen ihn in unserem Kopf zurechtlegen. Nur auf der Landkarte können wir erfahren, ob wir am Beginn eines Waldes stehen oder nur vor einem Gehölzstreifen von wenigen Metern Tiefe. Wie also, so mag sich Beuys gefragt haben, sieht man 7000 Bäume? Und zudem noch in einer Stadt: Zwischen den Straßen und Häusern und Gärten ist ja ein Wald ganz undenkbar. Und doch nannte Beuys sein Werk „Die Verwaldung von Kassel“. Bekanntlich hat Beuys neben jeden der seiner 7000 Bäume eine Stange Basalt zur Hälfte in die Erde eingraben lassen. Alle diese 7000 Basaltblöcke lagen zu Beginn der Aktion aufgeschichtet auf dem Kasseler Friedrichsplatz. Jeder Einwohner von Kassel hat sie gesehen. Im Laufe der Pflanzaktion der 7000 Bäume wurden die Steine abgefahren. Wo also in der Nähe unserer Wohnung oder unseres Arbeitsplatzes in Kassel ein Baum steht, der von einem solchen Basaltblock begleitet ist, da wisse wir: Solche Bäume gibt es 7000. 7000 Bäume sind ein ganzer Wald. In Kassel also steht ein ganzer Wald – der Wald wurde sichtbar gemacht nicht dadurch, daß 7000 Bäume nebeneinander gepflanzt worden wären, was eben als Wald nicht wahrgenommen werden kann, sondern dadurch, daß unser Kopf eine Überlegung anstellt, die auf die Zahl der Bäume schließt. Es ist ein intellektueller, ein künstlicher, ein künstlerischer Wald, aber es ist die Sichtbarmachung eines Waldes in der Umwelt, in der der moderne Mensch zu leben hat: in der Metropole.

lucius burckhardt, ‚ästhetik und ökologie‘ zuerst in bauwelt # 81/39, 1990, wiederabgedruckt in ‚warum ist landschaft schön? die spaziergangswissenschaft‘, hrsg. von markus ritter und martin schmitz, berlin 2006.

  • botanisieren im wald: baumkataster der stiftung 7000 eichen, kassel

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