kulturlandschaften, wallhecken, gärten vor 100 jahren: bilder von hermann reichling

hermann reichling: naturschutz, politik & fotografie

ein naturschützer unterwegs mit der kamera in westfalen und, auf der flugroute der zugvögel, bis nach lappland. hermann reichling (1890-1948), promovierter ornithologe und naturschutzpionier, war von 1919-1948 direktor des provinzialmuseums für naturkunde in münster. mit einer unterberechung von 1933 -1945, von den nazis wegen „politischer unzuverlässigkeit“ abgesetzt: disziplinarverfahren und als „schutzhäftling“ von juni bis september 1934 im kz esterwegen im emsland, wo er bei der trockenlegung von mooren zwangsarbeiten musste und misshandelt wurde. nach seiner freilassung wurde er an den dümmer im oldenburger münsterland verbannt, „kaltgestellt“: nicht untätig, entstand bis 1945 dort eine einzigartige dokumentation der region. 1945 rehabilitiert und wieder direktor des naturkundemuseums starb er jedoch schon 1948 an den folgen der kz-haft.

in seiner amtszeit von 1926 bis 1933 als staatlicher kommissar für naturdenkmalpflege in der provinz westfalen, wurden fast 70 schutzgebiete ausgewiesen. 1932 befanden sich ca. ein fünftel aller naturschutzgebiete preussens in der provinz westfalen. reichling war gut vernetzt: er stand u.a. im kontakt mit max hugo weigold, gründer der vogelwarte helgoland, 1910, und später direktor der naturkunde-abteilung des provinzialmuseums in hannover, und mit hugo conwentz, direktor des westpreußischen provinzial-museums in danzig & autor des buches ‚die gefährdung der naturdenkmäler und vorschläge zu ihrer erhaltung‘ (berlin, 1904).

mehr als 10.000 negative, glasplatten, haben sich zwischen 1912 und 1948 im archiv angesammelt und einige filme, die reichling als pionier des naturfilms ausweisen. fotografiert hat reichling, neben den üblichen familienszenen, hauptsächlich bei erkundungen, der sich stetig durch den menschen verändernden kulturlandschaften und ihre fauna in nordwestdeutschland. ab 1926 wurde er von dem fotografen georg hellmund unterstützt, der bis 1966 für das naturkundemuseum arbeitete. die familie übergab den privaten nachlass an das lwl -museum für naturkunde (ehem. provinzialmuseums für naturkunde). das archiv wurde ab 2015 mit unterstützung der nrw-stiftung aufgearbeitet und digitalisiert.

die ausstellung ‚vogelfänger, venntüten und plaggenstecher. natur und landschaften vor 100 jahren – bilder von hermann reichling‘ und die unter dem austellungstitel erschienene begleitpublikation des lwl (landschaftverband westfalen-lippe) von bernd tenbergen, kurator am museum, präsentieren die bilder jetzt zum ersten mal der öffentlichkeit. zur ausstellung ist ein weiterer band in der reihe ‚aus westfälischen bildsammlungen‘ erschienen: ’naturfotograf und naturschutzpionier – die fotosammlung dr. hermann reichling.‘: ausführlichere texte über den museumsdirektor & ornithologen von tenbergen, eine beitrag von stephan sagurna, lwl-medienzentrums für westfalen, über ‚reichling und die fotografie‘ sowie mehr informationen und bilder zu einzelnen kulturlandschaften. nach der ersten station in münster wird die ausstellung ab 2017 durch westfalen wandern.

im april 1926 fand im westfälischen provinzialmuseum für naturkunde an der himmelreichallee (die heutige westfälische schule für musik) die erste naturschutz-ausstellung statt:

Die gewaltigen Veränderungen, von denen die nordwestdeutschen Lande durch die Einflüsse der modernen Kultur betroffen worden sind, haben auch die Provinz Westfalen im Laufe der letzten Jahre stark in Mitleidenschaft gezogen. In richtiger Erkenntnis der schweren Gefahren, die auch weiterhin der Natur und der Eigenart des Westfalenlandes drohen, haben sich neuerdings die Heimat- und Naturschutzorganisationen mit regsten Eifer für die Erhaltung seiner schwer gefährdeten Natur eingesetzt. Um Verständnis für diese Bestrebungen auch in die breitesten Volksschichten hinein zu tragen […]

hermann reichling, ‚1. naturkundeausstellung des westfälischen provinzial-museums für naturkunde zu münster vom 15. märz bis zum 6. april 1926‘ in ‚mitteilungen über naturdenkmalpflege in westfalen‘, 1. heft, 1929 zitiert nach bernd tenbergen, ‚vogelfänger, venntüten und plaggenstecher‘, münster, 2016.

5145 fotos aus dem archiv sind online „verfügbar“. leider beinhaltet die digital strategy des lwl-medienzentrums für westfalen noch keinen open access und creative commons, andere öffentliche institutionen sind da weiter …

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v.l.n.r.: grenzweg im zwillbrocker venn: heide im münsterland und landwirtschaftliche nutzung im achterhoek (archivnr.14_2071, juni 1935). reste eine buche in fichten-monokultur im sauerland: lange(n)bruch (laut medienzentrum bei rixen bzw. in ’naturfotograf und naturschutzpionier‘ bei hallenberg am rothaargebirge, archivnr. 14_2809, september 1936). → juniperus communis / wacholder(schnaps, jenever, gin &c.) im gildehauser venn, grafschaft bentheim (archivnr. 14_1437, juli 1944).

fotografie: zeitgenossen, gärten & wallhecken

neue sachlichkeit in westfalen? der blick von reichling war noch im 19. jh verhaftet. die kameratechnik noch nichts für knipser. die fotografie war für ihn in erster linie mittel zum zweck: ein visuelles hilfsmittel zur aufklärung über die notwendigkeit des naturschutzes. es gibt bei der durchsicht des nachlasses jedoch das ein oder andere déjà-vu. ein kurzer blick auf die fotografierenden zeitgenossen: bei den personenaufnahmen, z.b. dem hauptmotiv der ausstellung – ein selbstporträt mit dem krammetsvogelfänger heinrich stille 1914 auf der heide bei kattenvenne – kann man, wenn man will, durchaus an august sander denken. neben fotos von max baur oder albert renger-patzsch müssen sich die landschaften von reichling, wenn auch zumeist konventioneller, nicht verstecken. bei dem bild einer scheune mit reklameschildern (archivnr. 13_2207, februar 1935) in sande, paderborn, und anderen aufnahmen der grassierenden „reklamepest“, erwähnt sagurna das buch ‚god’s own junkyard‘ (1964) von peter blake. bei walker evans taucht dieses motiv bereits in den 1930iger auf. kannten reichling und hellmund die „neuen fotografen“ ihrer zeit?

ein sachlicher blick & ein modernes experiment (oder vertauschte filmkassette?). aus der vielzahl der selbstporträts fällt eines heraus: eine alte eiche bei davensberg, am rande der davert, gibt es zweimal. quercus auf dem acker (archivnr. 14_2640, mai 1918) & als doppelbelichtung mit selbstporträt und geäst im himmel (archivnr. 13_556, 1918).

vogelfänger, eine ganze bildserie zeigt, wie man die netze zum fang der krammetsvögel aufstellt. venntüten, der durch den verlust von feuchtgebieten stark bedrohte numenius arquata / grosse brachvogel oder aufnahmen von plaggenstechern in den westfälischen mooren sind zu finden. wildpferdefang beim herzog von croÿ im merfelder bruch, landschaften in den baumbergen und der warburger börde & aus heutiger sicht verstörendes wie völkerschauen im zoologischen garten … ein nachlass voller entdeckungen. einige gärten gibt es ebenfalls & wallhecken:

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 v.l.n.r.: natürlich johann conrad schlaun & annette von droste-hülshoff: „haus rüschhaus bei nienberge.“ (archivnr. 13_2364, undatiert), der garten noch nicht nach schlauns plänen rebarockisiert (cf.→ denkmalpflege, rekonstruktion, …). „bauerngarten mit riesenwacholder bei ibbenbüren, juni 1935“ (archivr. 13_1778), ein typischer baum der heidegebiete in westfalen neben einem kotten im tecklenburger land & der heute romantisierte „bauerngarten“ ist zu reichlings zeit bereits museal: „bauerngarten am heimatmuseum in telgte, september 1935“ (archivnr. 13_2237).

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ein klostergarten im emsland: schloss clemenswerth (von 1737 bis 1747 von schlaun für kurfürst clemens august von bayern, erzbischof von köln & fürstbischof von münster & inhaber weiterer lukrativer posten, gebaute pavillons mit jagdstern). v.l.n.lr: taxus baccata nach holländischen vorbildern mit überblick über den garten hinter der schlosskapelle / dem kapuzinerkloster (archivnr. 13_2318, undatiert). die gloriette: clemens august nutzte das gartenhaus als eremitage (archivnr. 13_2316, undatiert). kapuzinermönch mit sonnenuhr: man könnte ihn für einen ornamental hermit halten … (archivnr. 13_2306, undatiert).

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wallhecken bei gelmer, eine alte diskussion cf. → wallhecken / ‚anweisung zur verbesserung des ackerbaues …‘ v.l.n.r.: eichen- und hainbuchenknubben (archivnr. 14_2435, undatiert). frühling in der wallhecke (archivnr. 14_2457, april 1934) und ausgegrabene knubben, die „zerstörung einer wallhecke bei gelmer“ (archivnr. 14_2464, april 1934).

romantik & melancholie oder landschaftsschutz?

die welt in westfalen ist schön, aber im umbruch. westfalen des 20. jahrhunderts – neben sander denkt man, bald ist weihnachten, an eine beschreibung der westfalen im film ‚alle jahre wieder‘ (1967) von ulrich schamoni: „Guckens sich an. Das sind unsere Westfalen! Kerls und Köppe wie wir hier sagen. Klein, dick, wunderbar im Ausdruck […]“. westfalen mit nicht mehr existierenden berufen, die begradigung der ems bei westbevern, die ehemals typischen heidegebiete, die sich häufig nur noch in strassennamen und flurbezeichnungen erhalten haben, das abholzen der wallhecken, um grössere felder bewirtschaften zu können … die bildauswahl kann auf „romantisch“ reduziert, die neue zeit ausgeblendet werden, oder man bekommt in der austellung und den publikationen einen blick für die veränderungen in der „natur“ und auf die industrialisierung der landschaften vor 100 jahren. den wandel kann man beklagen, wie schon vor fast 200 Jahren:

So war die Physiognomie des Landes bis heute, und so wird es nach vierzig Jahren nimmer sein. – Bevölkerung und Luxus wachsen sichtlich, mit ihnen Bedürfnisse und Industrie. Die kleinern malerischen Haiden werden geteilt; die Cultur des langsam wachsenden Laubwaldes wird vernachlässigt, um sich im Nadelholze einen schnellern Ertrag zu sichern, und bald werden auch hier Fichtenwälder und endlose Getraidseen den Charakter der Landschaft teilweise umgestaltet haben, wie auch ihre Bewohner von den uralten Sitten und Gebräuchen mehr und mehr ablassen; fassen wir deshalb das Vorhandene noch zuletzt in seiner Eigentümlichkeit auf, ehe die schlüpferige Decke, die allmählich Europa überfließt, auch diesen stillen Erdwinkel überleimt hat.

annette von droste-hülshoff, anonym als ‘westphälische schilderungen aus einer westphälischen feder’ in ‘historisch-politische blätter für das katholische deutschland’, münchen, 16. band, 1845.

die droste schreibt noch von „getraidseen“, die heutige monokultur, mais als biomasse, kannte sie noch nicht: die pättkestour, mit oder ohne kamera bzw. smartphone, durch das münsterland führt heute zumeist aussichts-los durch ein maislabyrinth. nicht zu vergessen die neubaugebiete & parkplätze für supermärkte am dorf- bzw. stadtrand, auf der „grünen wiese“. kann man was tun? die ems hat jedenfalls an einigen stellen wieder auen … eine kulturlandschaft ist immer im wandel.

bernd tenbergen, ‚vogelfänger, venntüten und plaggenstecher. natur und landschaft vor 100 jahren – bilder und filme von dr. hermann reichling (1890 – 1948)‘, begleitbuch zur gleichnamigen ausstellung, hrsg. v.  jan ole kriegs lwl-museum für naturkunde, münster, 2016, isbn 978-3-940726-44-5.

johannes hofmeister, stephan sagurna, ulrike gilhaus und bernd tenbergen, ’naturfotograf und naturschutzpionier – die fotosammlung dr. hermann reichling (1890-1948)‘, aus westfälischen bildsammlungen bd. 9, 255 s., geb., tecklenborg verlag, steinfurt, 2016, isbn 978-3-944327-37-2.

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obere reihe, grosses bild: appeltiewe (appel = apfel + tiewe = bissige hündin) unter den bogengängen des prinzipalmarkt, aus dem privaten archiv von hermann reichling; r.o.: venntüte, die vogeleiersammlúng von reichling & gerahmte fotos aus der ausstellung von 1926; r.u.: kamera mit blick auf das modell einer wallhecke. untere reihe, l.o.: hüttjagt, reichling und ein ausgestofter uhu bei der jagd auf krähen. l.u.: eriophorum / wollgras im film & winter wonderland im diorama (eine erfindung von daguerre) mit capreolus capreolus / rehen; grosses bild: kulturlandschaft to go oder wochenmarkt auf dem domplatz (von reichling 1913/14 fotografiert): malus domestica ‚dülmener herbstrosenapfel‘ & pyrus communis ‚winterköttelbirne‘ (heute kauft man bei der ag obstwiesenschutz des nabu münster auf dem markt, appeltiewen gibt es leider nicht mehr) & ein für die jahreszeit typischer münsterländer mit mettendken statt pfeife …

4 Gedanken zu “kulturlandschaften, wallhecken, gärten vor 100 jahren: bilder von hermann reichling

    • würde am liebsten sofort mit einigen der glasnegative in der dunkelkammer verschwinden 😉 aber jetzt erstmal die ‚winterköttelbirne‘ mit grünkohl & der stutenkerl (ist ja schliesslich nikolaus) …

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